Dienstag, 28.Februar

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Gestern im Duden Lyrikkalender gefunden:

Joachim Ringelnatz
Überall

Überall ist Wunderland.
Überall ist Leben.
Bei meiner Tante im Strumpfenband
Wie irgendwo daneben.

Überall ist Dunkelheit.
Kinder werden Väter.
Fünf Minuten später
Stirbt sich was für einige Zeit.
Überall ist Ewigkeit.

Wenn du einen Schneck behauchst,
Schrumpft er ins Gehäuse.
Wenn du ihn in Kognak tauchst,
Sieht er weiße Mäuse.
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Fatma Aydemir:Ellbogen
Hanser Verlag € 20,00

Dieser erste Roman der Journalistin Fatma Aydemir ist wirklich bemerkenswert. Die Autorin schafft den Spagat zwischen schnoddrigem Berliner Türkenslang und existentiellen Problemen und Sorgen, die die 18jährige Hazal umtreiben.
Hazal ist zu Beginn des Buch kurz vor ihrem 18.Geburtstag und wird beim Klauen eines Mascaras erwischt. Der Detektiv nimmt ihr die 100 € ab, die sie für ihre Geburtstagsfete mit ihren drei Freundinnen vorgesehen hat. Pleite und zu tiefst erniedrigt kehrt sie nach Hause zurück. Dort wo ihre Mutter stumpf im Fernseher türkische Serien anschaut, in denen nichts mehr passiert, seid Erdogan Erotik verboten hat. Wir tauchen mit Hazal und ihren Freundinnen in den Alltag ein, der voller Zwänge und Ausbruchsversuchen ist. Einerseits angepasst daheim, unter Druck, ohne Freiheit, immer in Furcht, vom Vater geschlagen werden, der selbst unzufrieden ist mit seinem Leben als Taxifahrer und dem lauten, halblegalen Freundinnenleben, das gespickt ist mit Musik, Drogen, Schminken, „krassen“ Sprüchen und Gewalt. Dies schreibt die Autorin aber alles in einem flotten frechen Stil auf, so daß wir immer wieder an Jugendromane wie „tschick“, oder „Mädchenmeute“ erinnert werden. Daß allerdings auszu viel Frust und Erniedrigung gefährliche Gewalt enstehen kann, zeigt der Geburtstagabend, als die vier Mädels nicht in den Club dürfen, den sie angesteuert haben. Schwer alkoholisiert und frustiert gehen sie Richtung U 6 und treffen dort um 4 Uhr morgen auf einen jungen Studenten, der seinerseits zu tief ins Glas geschaut hat. Ein Wort gibt das andere. Es wird geschubst und gestoßen. Danach getreten, bis der junge Mann auf den U-Bahnschienen liegt.
Dort endet der Berliner Teil des Romanes und wir befinden uns in Istanbul. Dort kommt Hazal bei einem Facebook-Bekannten unter. Hier erfährt sie auch, daß die Situation auf dem U-Bahn-Perron gefilmt worden ist und ihre Freundinnen in U-Haft sitzen.
Das so ganz andere Leben, in dem sich Hazal zurechtfinden muß, die Sorgen, die Gedanken der jungen Frauen stehen jetzt im Mittelpunkt und das Buch endet mit dem Putschversuch, bei dem Panzer in Istanbul auftauchen, Hubschrauber in der Luft kreisen und Schüsse fallen.

Ein Buch, das zurecht den Titel „Ellbogen“ trägt, denn der trifft uns Leser hart in die Magengrube. Zwar benutzt Fatma Aydemir viele Slangausdrücke und läßt den Roman auf den ersten Blick flapsig daherkommt. Doch zwischen den Zeilen erkennen wir sofort die Ernsthaftigkeit des Romans, die Zerissenheit der jungen Frau und merken, wie stimmig die Autorin mit ihrer Sprache umgegangen ist.

Ein Buch, das aufwühlt, aber auch gut unterhält. Ein Buch für ältere Jugendliche, für Schulen und alle, die mal eine etwas andere Literatur lesen wollen, als die vielen deutschen Kopfgeburten, die sich auf dem Markt tummeln.

Leseprobe

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Foto: Bradley Secker

Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. 2007 bis 2012 studierte sie Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main. Seit 2012 lebt sie in Berlin und ist Redakteurin bei der taz. Als freie Autorin schreibt sie daneben für zahlreiche Zeitschriften, unter anderem Spex und das Missy Magazine.

Samstag, 25.Februar

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Heute haben
Carlo Goldoni * 1707
Karl May * 1842
Anthony Burgess * 1917
Erice Pedretti * 1930
George Harrison * 1943
Franz Xaver Kroetz * 1946
Geburtstag
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Der Förderpreis Junge Ulmer Kunst 2017
Die Stadt Ulm zeichnet mit dem „Förderpreis Junge Ulmer Kunst“ im Jahr 2017 zum 15.Mal hervorragende Leistungen in sechs verschiedenen Sparten aus. Der Förderpreis ist mit Preisgeldern in Höhe von insgesamt 12.000 € dotiert, die
jeweilige Einzelzuwendung pro Sparte beträgt 2.000 €.
Schwerpunktmäßig sollen Nachwuchskünstler/innen gefördert werden, die sich an
der Schnittstelle ihres Werdegangs, d.h. in einer künstlerischen Ausbildung befinden
oder die am Übergang in eine künstlerische Berufstätigkeit stehen.
Wer kann sich bewerben?
Alle Künstler/innen der Sparten Literatur, Bildende Kunst, Film, Darstellende Kunst, Klassische Musik und Populäre Musik, die im Jahr 2017 nicht älter als
30 Jahre sind (Jahrgang 1987), deren Geburts- oder Wohnort Ulm ist oder deren künstlerisches Betätigungsfeld überwiegend in Ulm liegt. Interdisziplinär arbeitende Künstler/innen können sich ebenfalls bewerben und werden gebeten, sich einer Sparte zuzuordnen.
Wie bewerbe ich mich?
Sende Deine vollständige Bewerbung bitte bis spätestens 27.04.2017 an:
Stadt Ulm, Kulturabteilung, „Förderpreis 2017”, Frauenstraße 19, 89073 Ulm.
Deine Bewerbungsunterlagen sollen den Werdegang und Dein bisheriges künstlerisches Schaffen dokumentieren. Dazu gehören ein formloses Bewerbungsschreiben, ein Lebenslauf und je nach Sparte unterschiedliche
Arbeitsproben. In den Sparten Klassische und Populäre Musik wird eine engere
Auswahl der Bewerber/innen zu einem Vorspiel eingeladen.
Ausführliche Informationen zu den geforderten Bewerbungsunterlagen
findest Du unter:
www.foerderpreis-kunst.ulm.deÜber die Vergabe der Förderpreise entscheidet eine Jury.
Ihr gehören an: überregional anerkannte Fachleute der jeweiligen Sparte, Fachleute der
Stadt Ulm, je ein/e Vertreter/in der im Gemeinderat vertretenen Fraktionen sowie Vertreter/innen der Medien. Die Entscheidungen der Jury sind unanfechtbar.
Die Preisverleihung erfolgt am Freitag, 10.11.2017 um 19.00 Uhr
in einer öffentlichen Veranstaltung im Stadthaus; diese wird von den Preisträgerinnen und Preisträgern aktiv mitgestaltet.
Die Jury setzt sich in diesem Jahr für die einzelnen Sparten u.a. aus folgenden Juroren zusammen:
 
Bildende Kunst:
Andreas Baur, Leiter der Villa Merkel, Esslingen
Dr. Stefanie Dathe, Leiterin Ulmer Museum
Anita Schlesak, SWR-Studio Ulm
Ralf Milde, Gemeinderat
 
Darstellende Kunst:
Holger Schultze, Intendant Theater und Orchester Heidelberg
Nilufar K. Münzing, Leitende Schauspieldramaturgin
Jürgen Kanold, Südwest Presse
Reinhard Kuntz, Gemeinderat
 
Film:
Adrian Kutter, Intendant der Biberacher Filmfestspiele
Sibylle Tiedemann, freie Filmemacherin
Magdi Aboul-Kheir, Südwest Presse
Martin Ansbacher, Gemeinderat
 
Klassische Musik:
Wolfgang Seeliger, Leiter Konzertchor Darmstadt
Theo Kinder, Musikschule Ulm
Rainer Schlenz, SWR-Studio Ulm
Dr. Karin Graf, Gemeinderat
 
Literatur
Samy Wiltschek, Inhaber Buchhandlung Jastram
Dr. Alice Boldis, Stadtbibliothek Ulm
Marcus Golling, Neu-Ulmer Zeitung
Lena Christin Schwelling, Gemeinderat
 
Populäre Musik
Patrick Wieland, Gitarrist und Produzent, Ulm
Dieter Kraus, Lehrkraft Musikschule Ulm
Robin Schuster, Donau 3 FM
Uwe Peiker, Gemeinderat

Jetzt bewerben :
Stadt Ulm, Kulturabteilung
Frauenstraße 19, 89073 Ulm
Telefon 0731 161- 47 01
kultur@ulm.de
http://www.foerderpreis-kunst.ulm.de

Freitag, 24.Februar

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Heute haben
Erich Loest * 1926
Ferit Edgü * 1936
Keto von Waberer * 1942
Leon de Winter * 1954
Geburtstag
und es ist der Todestag von Uwe Johnson.
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„August 1967
Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit
Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand
kippen. Der straffe Überschlag, schon weißlich gestriemt, umwik-
kelt einen runden Hohlraum Luft, der von der klaren Masse zer-
drückt wird, als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden.
Die zerplatzende Woge stößt Kinder von den Füßen, wirbelt sie
rundum, zerrt sie flach über den graupligen Grund. Jenseits der
Brandung ziehen die Wellen die Schwimmende an ausgestreckten
Händen über ihren Rücken. Der Wind ist flatterig, bei solchem
drucklosen Wind ist die Ostsee in ein Plätschern ausgelaufen. Das
Wort für die kurzen Wellen der Ostsee ist kabbelig gewesen.“

So beginnen die 1.700 Seiten der „Jahrestage“ von Uwe Johnson
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„Was fan­gen wir noch an mit die­sem Leben, jetzt, nach­dem wir die halbe Stre­cke schon gegan­gen sind?“

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Zsuzsa Bánk:Schlafen werden wir später
S.Fischer Verlag € 24,00

Lange haben wir auf einen neuen Roman von Zuszsa Bánk gewartet. Daß er jetzt gleich mal mit 700 Seiten daherkommt, ist ein Wort. Und dann auch noch ein Briefroman. Besser ein Roman in Emails, denn das ist es, was sich beiden Freundinnen schreiben. Die eine oft spät in der Nacht, die andere manchmal in aller Frühe. Drei Jahre lang lesen wir die sehr persönlichen Briefe, die vom schwarzen Wald nach Frankfurt und wieder zurück geschickt werden. Briefe, in denen sich die Freundinnen in aller Gänze anvertrauen. Die eine, Márta, ist dauermüde mit ihren drei Kindern, will endlich ihr neues Buch veröffentlichen. Johanna, aus dem schwarzen Wald ist Lehrerin und muß die Leere ihres Häuschens füllen, nachdem ihr Partner nicht mehr dort wohnt und sie Angst hat, daß der Krebs wieder an die Tür klopft.

„Simon und ich, wir haben keinen Augenblick für uns, nachts tragen wir Mia und Franz in ihre Betten, Füße, Arme, Kopf baumelnd, zu jeder Stunde ein anderes Kind, das zwischen uns, in unsere Mitte gekrochen ist, in die Mulde aus Kissen, Mártaschulter und Simonduft, oder ich taste mich durch die Dunkelheit, um den weinenden Henri aus der Wiege zu heben, so benommen, als hätte er mich aus tiefstem ruhigen Schlaf gerissen, obwohl ich den schon lange nicht mehr kenne, diesen tiefruhigen Schlaf, von dem ich erholt aufwache. Schlafen werde ich später einmal, wenn ich alt bin, werde ich schlafen, Johanna, Nacht und Tag, soviel ich will.“

„Liebste Márta, vergib mir, dass ich Dich letzte Nacht ans Telefon geholt habe. Vergib mir die frischen Tränen. Nachdem der Krebs so heftig an meine Schlaftür gehämmert hatte. Der Panikvogel zurückgekehrt war. Obwohl ich Dir versprochen hatte aufzupassen. Ihn nicht mehr hereinzulassen. Dazu mein blöder, tausendfach durchgekauter öder Kram. (…) Es ist die Zeit, die ich beschuldige Márti. Die Zeit hat Schuld. Die Zeit hat mir alles weggefressen. Selbst die Orte meines Lebens hat sie geschluckt.“

Ein Buch voller Sehnsucht und Hoffnungen, mit Fluchten in die Literatur, die beide aus dem Grau des Alltags rettet. Es ist die Suche nach dem Glück und der Zufriedenheit in einer unüberschaubaren Welt, die einen mitreisst und zu verschlingen droht. Ein Buch über eine große, feste Freundschaft, die nie in Frage gestellt wird. Das Leben drumherum schon. Dies schreibt Zsuzsa Bánk in einem melancholischen, zuversichtlichen Ton, der die Geschichte nach vorne treibt und keinen rückwärtigen Blick zuläßt.

Zsuzsa Bánk schafft es auch hier wieder, daß wir uns in ihrem Roman wiederfinden, daß wir meinen, woher sie das nur über uns weiß. Ein Roman, der mit solch einer Liebe mit ihren Figuren spielt, daß die 700 Seiten zu kurz sind. Man möchte noch mehr über Johanna und Márta wissen, sie noch ein paar Jahre begleiten dürfen. Und da sind wir wieder bei den „Jahrestagen“. Auch hier war ich als Leser traurig, als das gemeinsame Jahr mit Gesine und Marie zu Ende war. Die Geburtstage der beiden stehen in meinem Kalender und somit denke ich zumindest zwei Mal im Jahr an sie.